25Fest

 

Festvortrag von Marita Blauth zur 25. Jubiläumsfeier der Frauenberatung Verden e.V. am 28. Juni 2018

Frauenberatung –Professionelle Beratung zwischen Realität und Qualität

Verden 1993 -2018
Es ist mir eine Ehre und sehr große Freude, vom Team der Frauenberatungsstelle eingeladen worden zu sein. Ein von Herzen kommender Glückwunsch zu diesem 25. Jubiläum, liebe Kolleg_innen!
1993 habt Ihr angefangen. Da war ich 36 Jahre alt und habe schon 9 Jahre in der Frauenberatung in Bonn gearbeitet. Was war das für ein Jahr, was war das für eine Zeit?
  • Jurassic Park lief in den Kinos
  • Franziska van Almsick war Sportlerin des Jahres.
  • Es gab die neuen Postleitzahlen
  • Das Wort des Jahres war „Sozialabbau“
  • In Zagreb protestierten Frauen aus 16 Staaten gegen die Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina.
  • Der Europäische Binnenmarktnahm Formen an und die EU erweiterte sich.
Ihr hattet Euch mit der Gründung der Frauenberatungsstelleeingereiht in eine Fülle bereits existierender„Frauenprojekte“, wie sie zu Anfang genannt wurden. Ich möchte Ihnen heute davon erzählen, wie es angefangen hat mit den Frauenprojekten und wie sich daraus professionelle Fraueninstitutionen entwickelt haben, wie die von mir geschätzte Frauenberatungsstelle Verden.
Wenn ich die älteren Frauenbewegungen mal außen vor lasse, dann hat es angefangen in den 1970er Jahren. 1975 war die erste UN-Weltfrauenkonferenz im ersten Internationalen Jahr der Frau. Frauen aus Universitäten taten sich zusammen und analysierten weibliche Bildungs- und Arbeitsbedingungen. Auf den Straßen, in Familien und Betrieben standen Frauen auf. Sie stritten für ihre Rechte auf Selbstbestimmung, für Mitbestimmung und angemessene Löhne, und sie stellten herkömmliche Rollenbilder in Frage.Sie verstanden sich als Kämpfende, als Denkende, als Verbündete, als Schwester, als Partnerin, als Gegnerin. Sie waren ungeduldig, mutig, klug und zornig. Es war wie eine Erschütterung. Und es gab mehr Fragen als Antworten.
Es war diegroße Power eines „Frauen gemeinsam sind stark“. 1977 wurde die erste bekannte Frauenband Deutschlands gegründet. Mit ihrem Namen „Schneewittchen“ forderten sie Frauen auf, den gläsernen Sarg zu zerschlagen und nicht auf den Kuss des Prinzen zu warten.Vielleicht kennen einige noch ihr erfolgreiches Lied der damaligen Zeit „Unter dem Pflaster, ja da liegt der Strand“. Verkrustete Strukturen im gesellschaftlichen Leben wurden aufgebrochen und der Strand, die Lebendigkeit darunter gesucht. Unterschiedliche Lebensweisen und lesbische Liebe wurden wahrgenommen. Die Euphorie und die Kraft des Anfangens hat viel bewegt. Sie hat Lebensverhältnisse, Leistungen und Wünsche von Frauen sichtbar gemacht und den Platz von Frauen in der Welt verändert.
Aber Frauen waren keine Einheit. Wie auch? Es gab so viele unterschiedliche Lebensgeschichten, verschiedene Interessen und widerstreitende politische Ansätze. Die Bewegung der Frauen kanalisierte sich -in politische Parteien, in berufliche Aufstiege, in autonome Frauengruppen, in UN-oder Nichtregierungs-Organisationenund in Frauenprojekte. Es entstanden die ersten Frauenhäuser, Frauenbuchläden, Frauengesundheitszentren –und Frauenberatungsstellen. Das, was bei aller Kontroverse als gemeinsames Thema bis heute auf der Tagesordnung blieb, war die geschlechtsspezifische Gewalt.Dazu später mehr. Zuerst werfen wir einen Blick auf die großen Spannungen, die die Anfänge der Frauenberatung prägten und zur hohen und reflektierten Qualität der aktuellen Beratungseinrichtungen für Frauen beigetragen haben.
Frauenberatung - zwischen Qualität und Realität
Die Feminist_innen damals haben Lebensrealitäten von Frauenaus der Privatheit herausgeholt und sie zur gesellschaftlichen Angelegenheit gemacht. Es ging umThemen wie Ehe, Sexualität, Familie und Zweierbeziehungen. Einerseits galten diese Angelegenheiten als privat, also das, was Menschen mit sich selbst ausmachen, worin man sich nicht einmischt. Andererseits unterliegen diese privaten Angelegenheiten aber einer enormen gesellschaftlichen Kontrolle, Gesetzen und Normierungen.
Dieses unsichtbare Zusammenwirken zu analysieren, die scheinbaren Normalitäten und die Traditionenzu hinterfragen und damit potentiell veränderbar zu machen, war Verdienst der frauenbewegten Frauen.Die Frauenberatungsstellen waren die Orte, wo die Analyse Praxis wurde. Sie waren die Orte, wo Frauen mit ihren Erfahrungen sichtbar wurden, wo sie sprechen konnten, ohne in herkömmliche Rollen verwiesen zu werden, wo sie in sozialen oder seelischen Krisen nicht für krank oder verrückt erklärt, sondern unterstützt wurden und mit Akzeptanz und Wertschätzung rechnen konnten. Diese Orte waren neue Orte. Und sogab es Versuch und Irrtum, Erfolg und Misslingen, Kämpfe um Anerkennung und Streit um Ressourcen.
Ich will hier exemplarisch zwei Spannungsfelder der Anfangszeit benennen, die Auseinandersetzung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit–und zwischen Selbsthilfe und Professionalität.
Die Selbsthilfe-Idee damals war radikal. Menschen begannen,sich dem medizinischen Spezialistentum der ”Halbgötter in Weiß”zu widersetzen.Es entwickeltesich eine politisch-emanzipatorische Gesundheitsbewegung. Frauen wurden darin als selbstbestimmt Handelnde und als Expertinnen der eigenen Belange aktiv.Sie beanspruchten die Macht über ihren eigenen Körper und die eigene Seele zurück. Sie wollten sich gegenseitig unterstützen und sich und ihrer Sicht auf die Welt Respekt verschaffen.
Parallel dazu gab es zunehmend frauenbewegte Frauen, die als Berater_in, Ärzt_inoder Therapeut_in ausgebildet waren. Für diese Frauen waren manche Selbsthilfegruppen wegen der fehlenden Professionalität eine fragwürdige Angelegenheit. Hier waren zwei Welten, die sich gegenseitig misstrauten. In den Frauenberatungsstellen berührten sich die beiden Welten –und transformierten sich. Es gelang, beide Konzepte miteinander zu verbinden.Selbsthilfefrauen machten Ausbildungen und Therapeutinnen befassten sich mit dem Selbsthilfepotential. Die gegenseitige Inspiration brachteeinekreative Vielfalt in der Beratungslandschaft hervor.
Mit der zunehmenden Professionalität entstand jedoch nun ein weiterer Konflikt, der zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit.Die Auseinandersetzungen in den Teams und zwischen Frauenprojekten drehten sich um folgende Überlegungen: Wenn Frauen darunter leiden, was eine ganze Gesellschaft mitzuverantworten hat, sollten sie die Kosten der Beratung nicht individuell tragen müssen. Feministische Berater_innenwollten jedoch -auch nicht aus politischer Notwendigkeit heraus -unbezahlt arbeiten. Sie wollten nicht in die traditionelle Frauenrolle rutschen und wichtige gesellschaftliche Arbeiten „umsonst und aus Liebe“ leisten.
Die Alternative aber, nämlich finanzielle Förderung durch staatliche Kooperationen zu erreichen, war anfänglich sehr umstritten. Warum? Weil sich viele Frauenberatungsstellen in ihrer Organisationsform und in ihren Inhalten als weiblicher Gegenentwurf zur herrschenden Beratungspraxis verstanden.Sie wollten sich neben der Beratungsarbeit auch politisc hin frauenrelevante Themen einmischen und sie wollten ihre Beratungsarbeit auch als politische Arbeit begreifen. Viele Frauen befürchteten, die Annahme von „Staatsknete“ (wie das damals hieß) könnte dieses Selbstverständnis gefährden.Was war das für ein Selbstverständnis? Es drückte sich z.B. in spezifischen Formen der Zusammenarbeit aus: Die Arbeitsorganisation war nicht hierarchisch gedacht, sondern selbstverwaltet und basisdemokratisch. Das bedeutete: alle sollten an allen Entscheidungen beteiligt sein, informelle Strukturen und Spontanität sollte vor bürokratischen Verknöcherungen schützen, die verschiedenen Arbeiten (Beratung, Therapie, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit...) sollten gleiche Wertschätzung oft auch gleiche Bezahlungerfahren, rotierende Zuständigkeiten sollten dazu beitragen, dass jede (fast) alles lernen kann.
Wie Sie sich denken können, war das nicht einfach. Diese Strukturen stießen einerseits an persönliche Grenzen, andererseits haben wir (ich spreche jetzt mal von wir, weil es zu meinen frühen Teamerfahrungen gehört) viel gelernt. Z.B. wie es geht, Verantwortung für uns selbst, für die Kollegin, für das Team und für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Arbeit zu übernehmen – manchmal alles gleichzeitig und manchmal in wechselnden Rollen.
Spätestens aber mit der finanziellen Förderung durch Kommunen, Arbeitsämter oder Landesministerien wurden neue Strukturen notwendig. Die alten basisdemokratischen Ansprüche mit neuen vereins-berufspolitischen und finanziellen Erfordernissen zusammenzubringen war eine Gratwanderung. Viele Frauenberatungsstellen haben lange Jahre diese Balance mit Kreativität und Professionalität gehalten und gestaltet. Es war die hohe Kunst, Widersprüchliches nicht glattzubügeln, sondern die Spannungen auszuhalten und auszutragen. So entstand an vielen Orten diese besondere Qualität der Arbeit: Bewahren und Erneuern, Nachdenken und Tätig sein, etwas können und etwas neu lernen, Autonomie und Verbundenheit.
Das Bewusstsein, dass sowohl die Berater_innen als auch die ratsuchenden Frauen nicht im luftleeren Raum agieren, sondern in das gesellschaftliche Zusammenleben eingebettet sind, hatte –und hat –nicht nur Einfluss auf die Frauenteams, sondern auch auf die Beratungsarbeit selbst.
Für eine ratsuchende Frau ist es hilfreich, wenn die Berater_in sich mit Themen auseinandergesetzt hat, die vielleicht schwer anzusprechen oder schambesetzt sind. Frauenberatungsstellen und Feminist_innen haben den gesellschaftlichen Umgang mit wichtigen Themen verändert. Sie haben zugehört, ernstgenommen und erforscht, was uns heute an Wissen selbstverständlich erscheint: Das Wissen um häusliche Gewalt, um den Missbrauch von Vertrauens-und Abhängigkeitsbeziehungen in Familien, sozialen und kirchlichen Einrichtungen, die sexuelle Ausbeutung darin und das Wissen um die Folgen und Bewältigungsmöglichkeiten. All das hätte es ohne die engagierten Frauen so nicht gegeben. Das ganze Wissen um geschlechtsspezifische Erziehung und seine Wirkung, das Wissen um die vernichtende Wirkung von dauerhaftem abwertenden und sexistischen Verhalten gegenüber Frauen ist ein wesentlicher fachlicher Erfahrungsschatz in Frauenberatungsstellen.
Wenn Frauen z.B. an den Folgen dessen leiden, was andere Menschen ihnen an Gewalt zugefügt haben, wenn ihnen grundlegende Rechte in Deutschland verweigert werden, wenn sie Krieg oder Verfolgung erlebt haben, dann spielt sich im Beratungsraum mehr ab als die neutrale Begegnung zweier souveräner Menschen. Da sitzen Angst, Ohnmacht, Schuld, Verantwortung, Vorurteile und Nicht-Wissen mit am Tisch. Da ist es nicht egal, ob die Berater_in ihre eigene Herkunft und Hautfarbe reflektiert hat oder nicht. Da ist es auch nicht egal, welche Bilder zu dem jeweiligen Gegenüber bewusst sind. Und es ist nicht egal, wie über das Gefälle der gesellschaftlichen Macht nachgedacht wurde. In den Beratungsgesprächen ist es hilfreich und zielführend, das Leid, weshalb eine Frau Beratung in Anspruch nimmt, nicht auf ihre individuellen Biographien oder familiären Verstrickungen zu reduzieren, sondern einen weiten Blick zu behaltenauf ihre Lebenswelten - auch dann, wenn diesezuerst einmal unbekannt sind.
Die Berater_innen wollten also - früher wie heute - nicht nur einzelne Beratungsgespräche machen, ratsuchende Frauen unterstützen und mit ihnen zusammen individuelle Lösungen finden, sondern sie wollten diese Erfahrungen auch reflektieren, das eigene Wissen und Forschen öffentlich machen, Verantwortungen benennen und sich auf der Seite von Frauen positionieren.Die allermeisten Frauenberatungsstellen haben sich für öffentliche Förderung entschieden. Die spezifische Qualität der Arbeit, Individuum und Gesellschaft gleichermaßen in den Blick zu nehmen, hat sich in unterschiedlicher Ausprägung trotzdem oder deshalb bis heute erhalten. Haben sich damit denn nun alle Spannungsfelder aufgelöst?
Schauen wir mal. Ihr habt 1993 begonnen. Da war die große Euphorie der 70er Jahre bereits abgeklungen und viele Streit-Fragen bereits sortiert. Es war mutig, mitten im Zeitalter des Sozialabbaus eine neue Frauenberatungsstelle zu eröffnen und das wäre ohne feministischen Eigensinn bestimmt nicht zu schaffen gewesen.Während die Frauen der Anfänge sich gegen die Reduzierung von Frauen auf die berühmten drei K: Kinder, Küche, Kirche zur Wehr setzten, haben sich Frauen von heute mit ganz anderen Frauenbildern auseinanderzusetzen.Der Anpassungsdruck, Erwartungen zu entsprechen, ist nicht unbedingt kleiner, aber viel komplexer geworden. Lassen Sie mich einmal exemplarisch ein Bild entwerfen, das kein reales ist, aber eines, das zu Zeiten die Macht hat, sich in Körper und Herzen hineinzuwünschen.
Die ideale Frau von heute.Sie hat ein gut durchgeplantes Leben, ein funktionierendes persönliches Gesundheitsmanagement, ist schlank, jung oder „junggeblieben“und verfügt über eine ausgewogene Work-Life-Balance. Sie wird passgenau zwischen Karriere und persönlicher Freiheit schwanger, plant bedacht ihre Geburten und bekommt gesunde Babys. Dabei ist sie vernetzt und sozial engagiert, hat natürlich eine gute Ausbildung und macht Karriere. Sie bildet sich permanent weiter, genießt Arbeit, Konsum und Kultur, delegiert Haus-und Sorgearbeiten souverän an technische Geräte oder andere Frauen. Sie lebt eine erfüllte Sexualität, ist gleichberechtigte starke und einfühlsame Partner_in, kann gleichermaßen mütterlich, freundlich und unterstützend wie auch ehrgeizig, durchsetzungsfähig und cool sein. Sie ist - mit eigenem Stil - um Schönheit und Ausstrahlung bemüht und fühlt sich leistungsfähig. Sie ist flexibel, verantwortungsvoll, glücklich, erfolgreich und unabhängig. Wie klingt uns das? Wie die drei K’s seinerzeit ist auch dieses Frauenbild ein Kind seiner Zeit. Das Problem ist, dass man an diesem perfekten Kunstproduktnur scheitern kann – und dass Scheitern oder Zweifeln darin nicht vorgesehen sind. Und wenn, dann steht „die Tigerfrau“, wie die Frau der Zukunftvon einem Trendforschungsinstitut genannt wurde, ganz resilient wieder auf und erkämpft sich ihren Platz selbstverständlich wieder. Puh.
Als Berater_innen kritisch zu bleiben gegenüber diesen Ansprüchen an Selbstoptimierung ist gar nicht so einfach. Auch und gerade deshalb nicht, weil auch Ratsuchende mit dem Wunsch kommen, möglichst schnell „wieder zu funktionieren“. Der Druck ist groß. Entweder weil es kaum Entlastung gibt bei enormer Aufgabenfülle und Verantwortlichkeit in Erziehung, Pflege, Alltagsorganisation und Job... oder weil zwei und mehr Jobsschon kaum mehr reichen... oder weil Erkrankung oder Einschränkung den Erwerbsarbeitsplatz gefährdet... oder weil eben der Anspruch, dem Leistungsprofil der autonomen, selbstbestimmten Frau zu entsprechen, verinnerlicht wurde.
Ich werde jetzt einen Aspekt etwas näher beleuchten, der mir sehr am Herzen liegt, weil er den Rahmen bildet für dieses neue Frauenbild. Es geht darum, dass Marktgesetze wie Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Vergleichbarkeit unser Leben auf eine Weise zu bestimmen drohen, wie es nicht gut ist. Ich werde etwas zu Qualitätsmanagement sagen.
Qualitätsmanagement
Als in den 1990er Jahren das Qualitätsmanagement auch in den sozialen Diensten Einzug hielt, gab es neben kritisch-warnenden Stimmen eine große Akzeptanz der Idee, Dienstleistungstätigkeiten auf diese Weise zu verbessern. Es war zu Beginn verführerisch, die Umstrukturierungen der Agenda 2010 mit ihren modernen Begrifflichkeiten als positive Entwicklung und Aufwertung sozialer Arbeit zu begrüßen: Die Menschen,die Sozialleistungen beziehen sollten nicht mehr unmündig gemachte und im bürokratischen Zuständigkeitsgerangel aufgeriebene HilfeempfängerInnen sein. Nein, sie könnten sogar ganz emanzipiert als souveräne KäuferInnen von Dienstleistungen ihre momentane Hilfsbedürftigkeit überwinden. Das klang doch cool. Und die Sozialarbeit als traditionell weiblicher Beruf ohne hohen Rang könnte sich mittels Qualitätsmanagements und dem volkswirtschaftlichen Vokabular vielleicht in die Sphären des Managements aufschwingen und so gesellschaftliche Anerkennung erreichen...? Das war eher romantisch als realistisch. Wie kam es dazu?
In den 1980er Jahren öffnete der EU Binnenmarkt seine Grenzen, nicht nur wie bisher für Güter (undlange nicht für alle Menschen) sondern nun auch für öffentliche Dienstleistungen. Dass damit auch personennahe Dienstleistungen auf dem Weltmarkt in Wettbewerb treten sollten, veränderte alles. Es veränderte das Denken und es veränderte die Arbeit. Wettbewerbsfähig zu sein bedeutete,auf dem Markt besser zu sein als andere. Doch woran soll sich dieses „besser“ messen? Dazu braucht es Messinstrumente. So wie die Qualität eines Produktes, einer Schraube beispielsweise, genormt ist, damit sie überall einsetzbar ist, so sollte nun auch eine Dienstleistung mit der anderen vergleichbar gemacht werden können, damit auch sie billig einkaufbar und überall einsetzbar ist. Also braucht es für soziale Dienstleistungen auch Normen, um sie messbar zu machen.Doch DIN Werte für soziale Dienstleistungen zu erfinden, als sei eine zwischenmenschliche Beziehung zu normieren wie die Größe eines Blatt Papiers in DIN A 4, war absurd. Aber unter dem Argument leerer öffentlicher Kassen, die im übrigen aktiv geleert wurden durch Privatisierungen und Steuerentlastung für Großunternehmen, passten sich soziale Verbände sehr schnell diesen Vorgaben ein.Es entstanden diverse Qualitätsmanagements-Systeme, die den Wettbewerbsgedanken in die Sozialen Einrichtungen hineintrugen. Manche hielten das für fortschrittlich, und das war es auch in dem Sinne, dass Fortschritt bedeutete, permanent wirtschaftliches Wachstum hervorbringen zu müssen. Doch wie sollte das gehen in den Bereichen, wo es um menschlichen Kontakt, um Erziehung, Bildung, Pflege und Beratung geht? Es ist in der industriellen Produktion vielleicht noch eine Weile möglich, durch Rationalisierungen und ähnliche Maßnahmen Produkte schneller, billiger, in größerer Zahl herzustellen. Doch in den personennahen Dienstleistungsbereichen sind der Inwertsetzung einfach menschliche Grenzen gesetzt. Man kann nicht immer schneller erziehen, pflegen, lehren, fürsorglich sein. Wenn dieser zwischenmenschliche Bereich der Marktlogik, dem Waren-denken untergeordnet wird, leidet die fachliche und menschliche Qualität.Wachstum -und Ausschüttungan Aktionär_innen-ist hier nur möglich, wenn immer mehr Arbeitende für einen immer geringeren Lohn immer mehr arbeiten und wenn der Dokumentation –die den Wettbewerbsvorteil messbar machen soll –mehr Wert beigemessen werden muss als einem lebendigen Kontakt in zwischenmenschlicher Verantwortung.
Frauenberatungsstellen arbeiten mit Menschen, die in ihren körperlichen, seelischen, geistigen, kulturellen Prägungen nicht ganzheitlich zu erfassen –und zu perfektionieren -sind. Es braucht Zeit, um emotionale und soziale Kontakte tragfähig und grenzen-achtend zu entwickeln, um Vertrauen zu erarbeiten, um zu verstehen, um gut zu beraten. Es braucht Raum und finanzielle Ressourcen, um über den eigenen Tellerrand zu schauen, die eigene Arbeit zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Beziehungsarbeit kann nicht beliebig verkürzt oder beschleunigt werden und sie ist nicht vollständig planbar und manchmal unvorhersehbar.Leben lässt sich nicht vollständig berechnen. Das Denken in Marktgesetzen mit seinen Messinstrumenten und Effizienzdenken ist eine Verschwendung. Eine enorme Verschwendungvon Kreativität, Lebensfreude -und Professionalität. Dies sollten wir nicht zulassen.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Professionalität in der Frauenberatungsstelle kommt nicht ohne die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischer Gewalt aus. Ich meine damit alle Gewaltformen, die aus der Missachtung, Herabwürdigung und Abwertung von Frauen heraus entstehen oder wo Gewalt je nach Geschlecht unterschiedlich interpretiert wird.
In vielen Familien ist Gewalttätigkeit Teil des funktionierenden Zusammenlebens. Auch hier scheint es ein Spannungsfeld zu geben. Einerseits ist das Thema kein Tabu mehr. Frauenhäuser und -Beratungsstellen müssen sich nicht mehr legitimieren (was nicht bedeutet, dass sie überall ausreichend gefördert werden) aber ihre Arbeit ist weitgehend anerkannt. Andererseits scheint diese Gewalt fast ausschließlich auf der Beziehungs-und Paardynamik betrachtet zu werden, als bestände eine Scheu davor, auch hier einen weiten Blick einzunehmen und öffentlich zu diskutieren, was die Ausübung von Gewalt und die geschlechtsspezifische Gewalt fördert. Wir könnten darüber sprechen, welche Faktoren eine Kleinfamilie zu einem potentiell gefährlichen Ort für Frauen machen könnte, darüber, wie alte Rollenvorstellungen das Zusammenleben eng machen und den Druck erhöhen. Wir könnten über romantische Liebesvorstellungen und Familienideale sprechen, die Gewalt fördern und decken. Und über fehlende Ausweich-oder Trennungsmöglichkeiten durch finanzielle Abhängigkeiten. Und wir könnten über andere Familienmodelle und Nachbarschaftsstrukturen, über den Wert von Freundschaften und über lustvolle Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung sprechen.
Die Arbeit in Frauenhäusern und -Beratungsstellen ist die eine Seite. Die andere Seite ist die: Wie geht eine Gesellschaft, wie gehen wir alle mit dem menschlichen Gewaltpotential und der geschlechtsspezifischen Gewalt um?
Ein Beispiel:
Eine Frau, die nach einer Vergewaltigung in die Beratungsstelle kommt, ist nicht per se ein medizinischer Notfall und behandlungsbedürftig.
  • Wenn sie eine wertschätzende Umgebung und einen Freund_innenkreis hat, der ihr glaubt, und ihr Trost spendet,
  • wenn sie die Definitionsmacht darüber behält, was ihr widerfahren ist,
  • wenn sie über rechtliche /medizinische Möglichkeiten informiert ist und frei darüber entscheiden kann,
  • wenn sie sich die Zeit nimmt und bekommt, das Erlebte auf ihre eigene spezifische Weise zu verarbeiten,
  • wenn ihr Lebensumfeld ausreichend Gewaltfreiheit, soziale Anerkennung, aufenthaltsrechtliche Sicherheit und ökonomische Grundsicherheiten bieten, damit das Erlebte ungestört verarbeitet werden kann,
  • wenn ihre unterschiedlichen Empfindungen (Wut, Angst,... ) als ihr Gefühlsausdruck wahr-und ernst genommen werden, ohne dass diese Gefühle instrumentalisiert werden,
wenn diese Bedingungen vorhanden sind, dann hat sie gute Chancen, dieses Erlebnis auch ohne weitere therapeutische Unterstützung zu bewältigen.
Ein Beratungsgespräch ist wichtig dafür, sie zu stabilisieren und zu beruhigen. Sie braucht Erklärungen über mögliche körperlich-seelische Reaktionen, damit sie diese verstehen und einordnen kann. So hat sie die Möglichkeit, einen heilsamen Umgang damit zu entwickeln und sich und ihrem Körper zu vertrauen. Der Organismus verfügt potentiell über eigene Heilungs-Kräfte. Angelegt ist alles da, was er braucht, um das erschütterte Leib-Seele-System wieder in der Welt zu verankern. Dazu braucht es aber eine Welt, die sich der Erfahrung der Gewalt nicht verschließt, die sich dazu in ein Verhältnis setzt und die sich bemüht, Weltvertrauen wieder zu ermöglichen: Durch die Anerkennung des Leidens, durch das Wiedereinsetzen von Gerechtigkeit, durch das Ermöglichen von Sicherheit, Geborgenheit und Selbstbestimmung. Wenn allerdings diese Bedingungen alle nicht vorhanden sind, wenn eine Frau alleine gelassen, auf Angst, Schuld und Scham zurückgeworfen wird, dann ist therapeutische Unterstützung sinnvoll, um langfristigen Schaden zu begrenzen.Über die individuelle therapeutische Arbeit hinaus ist es unser aller Aufgabe, für ein gerechtes und menschenwürdiges Zusammenleben zu streiten.
Deutschland ratifizierte in diesem Jahr die Istanbul-Konvention von 2011, das ist das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Dieses Übereinkommen ist ohne Frage eine Wirkung der Arbeit engagierter Feministinnen.So erleben wir im Moment einen recht breiten(partei-) politischen Konsens, Frauen gegen Gewalt zu schützen. Andererseits ist dieser Konsens nicht gleichbedeutend damit, dass eine Frau, die von geschlechtsspezifischer Gewalt berichtet, damit ernst genommen wird. Sich gegen „Gewalt gegen Frauen“ auszusprechen, ist ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner. Kampagnen wie „Keine Gewalt gegen Frauen“ stellen noch nicht traditionelle Geschlechtsrollenbilder in Frage und benennen noch nicht gesellschaftliche Machtverhältnisse. Vielleicht stabilisieren sie diese sogar?
Ein Beispiel:
Berichte aus Kriegs-und Krisengebieten betonen es immer sehr, wenn unter den Opfern „Frauen und Kinder“ sind. Was ist das für eine Aussage? Bemerkenswert daran ist, dass „Frauen und Kinder“ oft wie eine Kategorie genannt werden, als gäbe es zwischen einer erwachsenen Frau und einem Kind keinen nennenswerten Unterschied. Wenn die Benennung des Geschlechtsals Hinweis dienen sollte, dass die Opfer zivile Opfer seien, bleibt die Frage, warum sollte die Verletzung von zivilen Frauen besonders hervorgehoben werden gegenüber der Verletzung von zivilen Männern? Oder gelten automatischalle Männer als kriegsbeteiligt und alle Frauen nicht? Oder tragen etwa die Verantwortlichen eine größere Schuld, wenn die Opfer weiblich sind?
Hier wirken unsichtbare Zuschreibungen. Ich denke, diese Frauen-und-Kinder -Formulierungen bedienen die Bilder, Frauen als wehrlos, unschuldig und schützenswert, Männer hingegen als unverletzbar zu imaginieren.Diese Bilder, diese Vorstellung, legitimiert Gewalt. Sie legitimiert die Gewalt von Männern gegenüber Frauen, ob als Aggressoren oder als vermeintliche Beschützer. Sie legitimiert Gewalt, die Männer anderen Männern antun und macht Kriegsgewalt zu einem scheinbaren Naturereignis.Wie wäre es stattdessen, wenn wir anerkennen, dass wir Menschen immer andere Menschen brauchen, dass wir insofern alle voneinander abhängig sind und dass das bedeutet, auch verletzbar zu sein. Wie wäre es, wenn wir aufhörten, Verletzbarkeit und Unschuld gleichzusetzen? Welche vermeintlichen Gewissheiten kämen da ins Wanken?
So, nun bin ich von der geschlechtsspezifischen Gewalt, die als Thema die unterschiedlichsten Frauen und Fraueninteressen verbindet, bei der Verletzbarkeit von Menschen, auch von Männern gelandet. Mir erscheint das folgerichtig, weil ich glaube, dass mit der individuellen und gesellschaftlichen Anerkennung menschlicher Verletzbarkeit, der Anerkennung dessen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind, eine große Kraft liegt und ein großes Potential. Ich würde mir wünschen, dass wir das nutzen könnten.
Vielleicht gehört dazu eine Offenheit. Eine Offenheit nicht nur der Berater_innen in Beratungsstellen, sondern eine Offenheit von vielen Menschen, sich einander fragend und mit Interesse zuzuwenden. Eine Zuwendung, die keine Krankheitsdefinition oder professionelles Können braucht, sondern nur das „Ich bin da“. Menschen brauchen das.
Mit einem letzten Spannungsfeld möchte ich schließen.
Menschen sind soziale Wesen. Sie sind in ihrem Gefühl, ein Existenzrecht zu haben, von anderen Menschen abhängig, davon, wie akzeptierend ihre Umgebung mit Bedürfnissen, Leid und Schmerz umgeht und davon, wie ihre Umgebung Schutz vor Gefahren und Gewalt sicherstellt. Gleichwohl sind Menschen auch autonome Wesen, die die Freiheit brauchen, selbstbestimmt und selbstwirksam das Zusammenleben zu regeln. Sie brauchen die Fähigkeit, Widerständiges, Ambivalentes, Eigenes - auch gegen den Mainstream - zu entwickeln.
Frauenberatungsstellen sind ein Ort, wo Autonomie und Verbundenheit gedacht, geübt und gelebt werden. Das macht sie zu einem guten Ort. Heute und hoffentlich noch weit über die 25 Jahre hinaus mögen die Kolleg_innen mit Freude, Elan, Anerkennung und finanzieller Sicherheit Freiräume und Entwicklungsräume für Frauen gestalten und dabei aus der Fülle schöpfen.
Das wünsche ich uns allen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.